
Wie soll ich von etwas erzählen, dessen Worte ich nicht kenne?
Gefühle größer als Worte
Wenn es zu einer Trennung kommt, die einseitig entschieden wurde, entsteht ein erhebliches emotionales Ungleichgewicht. Der „aktive“, also der sich trennende, Partner hat sich über diesen Schritt schon geraume Zeit Gedanken gemacht, ist also im Prozess des Verarbeitens schon sehr viel weiter als der andere. Dieser wiederum, der in diesem Moment „passive“ Partner, muss das Gehörte erstmal verarbeiten, starke spontane Emotionen und sich überschlagende Gedanken aushalten und sortieren. Wer es erlebt hat, weiß, wie hart das sein kann. Wer es nicht erlebt hat, kann es sich mit ein wenig Empathie vorstellen.
Das Kind über die Trennung der Eltern zu informieren, ist dann ein nicht mehr allzu weit entfernter Schritt. In unserem Fall lagen nur wenige Tage zwischen diesen beiden Ereignissen.
Wir haben es unserer Tochter gemeinsam zu erklären versucht. Sie war damals noch nicht ganz 5 Jahre alt. Die erste Reaktion war recht verhalten: Sie wollte kuscheln, war etwas traurig, versuchte aber auch, uns zu trösten, weil sie auch unsere Trauer spürte. Ich bin sicher, die gesamte Tragweite dieses Gespräches war ihr nicht klar.
Heute – fast fünf Jahre später – erinnert sie diesen Tag nicht mehr. Aber sie erinnert sehr deutlich, dass ihr Vater ihr etwas später mitgeteilt hat, er werde künftig bei Oma und Opa schlafen. Obwohl er jeden Abend nach der Arbeit zu uns kam, bis sie im Bett war, obwohl er also täglich präsent war, war dieser Moment für sie der Moment der Trennung ihrer Eltern.
Unsere Routine veränderte sich, der Morgen lief jetzt ohne den Papa ab. Natürlich war auch die Stimmung im Haus anders. Meine Tochter aber verhielt sich weitestgehend zunächst einmal wie vorher und äußerte kaum konkrete Sorgen. Aber: Ab sofort wollte sie bei mir im Bett schlafen.
Über etwas sprechen, für das es keine Worte gibt – wie geht das?
Natürlich habe ich mir gewünscht, mein Kind würde mit mir über seine Gefühlswelt sprechen. Aber sie war dafür einfach noch zu klein! Wie hätte sie all das in Worte fassen sollen? Wenn mir als erwachsener Person die Aussicht auf den kommenden Weg schon schwer überschaubar erscheint, wie muss das dann aus Kindersicht sein?
Einerseits überblickt ein Kind die ganze Dimension einer solchen Situation nicht – was es in mancher Hinsicht leichter machen kann. Andererseits entstehen aber auch diffuse Ängste und Ideen, die nicht greifbar und schwer zu benennen sind. Natürlich möchten wir, dass unsere Kinder ihre Sorgen mit uns teilen, aber wie sollen sie das, wenn sie nicht erklären können, was sie bewegt?
Mein Mann und ich hatten damals Kontakt zu einer Eheberatungsstelle, die ich nach der endgültigen Trennung noch einmal alleine aufgesucht habe. Ich dachte dabei gar nicht an meine Situation. Ich wusste aus den vorangegangenen, wenig hilfreichen Gesprächen, dass dieser Berater und ich keine gemeinsame Linie finden würden. Ich ging trotzdem hin in der Hoffnung auf einen professionellen Rat zu der Frage: Wie kann ich mein Kind bestmöglich durch diese Zeit bringen?
„Visualisieren Sie Ihrem Kind die Situation und zeigen Sie auf, dass sie endlich ist.“
Dieser Berater gab mir als Beispiel das Bild eines Tunnels mit auf dem Weg. Ich sollte meiner Tochter erklären, dass die Trennung sich anfühlen kann, wie ein dunkler langer Tunnel. Den zu durchlaufen kann sehr schwer sein, aber am Ende kommt wieder Licht und wir werden dieses sicher erreichen.
Auch wenn ich (bis heute) das Bild von einem dunklen Tunnel als zu bedrückend empfand – die Idee an sich fand ich wirklich gut!
Unsere Lösung: Ein Berg
Meiner Tochter wurde mit der Zeit klar, dass die Trennung ihrer Eltern eine bleibende Sache war. Es kamen mehr Fragen. Und mehr Sorgen. Ob Papa einsam ist, weil er ja nachts alleine schlafen muss. Ob es möglich ist, dass unsere Liebe zu ihr genauso verschwinden kann, wie die Liebe von Papa zu Mama. Ob wir überhaupt noch eine Familie sind, wenn Mama und Papa nicht mehr zusammenwohnen.
Nach einer Weile stand dann fest, dass wir nach Hamburg ziehen werden. Meine Tochter war an der Entscheidung beteiligt und freute sich auf Hamburg. Aber natürlich kamen auch die Fragen nach der Entfernung zu ihrem Papa und ihren Halbschwestern und dem Rest der Familie in NRW. Je näher der Umzugstermin rückte, desto häufiger äußerte sie Sorgen und Fragen.
Bei einer dieser Frage-Gelegenheiten habe ich meiner Tochter einen Berg gezeichnet. Beim Zeichnen habe ich ihr erklärt, dass es manchmal Situationen gibt, die sich wie ein riesiger Berg anfühlen…
Stell Dir vor, das Leben ist wie ein Weg. Man geht ihn jeden Tag ein Stück, manchmal ist er schön und einfach, manchmal ist er etwas holprig, z.B. wenn man krank ist oder traurig. Und manchmal passiert was und man muss sich richtig anstrengen und über einen Berg klettern. Dass Papa ausgezogen ist, fühlt sich jetzt an wie so ein Berg. Und im Moment ist er ganz steil. Man denkt, man schafft es niemals, diese erste Felswand zu überwinden, weil das Herz so weh tut. Dann fängt man an zu klettern. Das ist sehr anstrengend und man muss auch immer mal wieder weinen. Aber wir beide sind zusammen und gemeinsam schafft man es dann doch. Und wenn man oben ist, wird es etwas leichter. Man kann nochmal zurückschauen und sehen, was man geschafft hat. Vielleicht ist der Weg weiter nach oben dann etwas weniger steil und man kann sich kurz ausruhen.
Doch der Gipfel sieht immer noch verdammt hoch aus und man sieht, wieviel man noch vor sich hat! Manche Stellen kann man gar nicht sehen, weil Steine davor liegen. Dann macht man sich Sorgen. Aber man klettert trotzdem weiter, weil man ja die Zeit nicht anhalten kann.
Die ganze Zeit habe ich weiter gemalt, ihr gezeigt, wovon ich erzähle. Dieser Berg – der erste von vielen – hatte spitze Klippen, über die man klettern musste, steile Wände, große Steine. Aber er hatte auch Treppenstufen, hin und wieder eine Schräge, die man runterrutschen konnte (z.B. ihr Geburtstag, den wir mit ihrem Papa zusammen gefeiert haben) oder mal ein kleines Plateau mit Gras und Blumen zum Ausruhen (ein Wochenende mit Oma in Hamburg).
Und dann, wenn man den Gipfel erreicht hat, dann kann man sehen, was auf der anderen Seite wartet. Und man sieht, dass da viel Schönes ist: Eine schöne Wohnung in Hamburg, ein toller Kindergarten mit neuen Freunden, Besuche bei Papa und der Familie in NRW.
Der Weg hinter dem Berggipfel ist leichter, weil es bergab geht. Doch auch hier gibt es noch Klippen oder mal einen Steinschlag, der weh tut. Aber insgesamt ist es leichter und es wird immer schöner. Ab und zu kann man sogar rutschen! Und irgendwann ist man unten und kann sich den Berg noch einmal ansehen und stolz darauf sein, ihn erklommen zu haben.
Auf meine Frage, ob meine Tochter jetzt ihren eigenen Berg malen möchte, hat sie sofort ja gesagt und angefangen. Sie hat mir den Berg genau erklärt und viele persönliche und besondere leichte und schwere Wegstrecken eingebaut und beschrieben.
Gipfelsturm
Als es dann zum Umzug kam, ging es uns allen nicht gut. Der Tag hat unglaublich viel Kraft gekostet. Insgesamt denke ich aber, für unser Kind haben wir den Umzug bestmöglich über die Bühne gebracht. Darüber werde ich später noch ausführlicher schreiben. In aller Kürze: Den Umzugstag hat meine Tochter bei meinen Schwiegereltern verbracht, dann dort mit ihrem Papa übernachtet. Die Umzugsfahrt nach Hamburg hat sie nicht mitgemacht, sie ist einen Tag später mit ihrem Papa geflogen. Noch einen Tag später ist er dann wieder nach NRW abgereist und wir blieben zurück.
Dieser eine Abschied vom Papa war mit Abstand der schlimmste Moment der gesamten Trennung. Sie hat lange und bitterlich geweint, ich glaube heute, ihr ist in diesem Moment die ganze Tragweite der Situation klar geworden und sie konnte gar nicht fassen, was da an Gefühlen auf sie einstürmte. Ich konnte nur mitweinen.
Doch als das Weinen dann ein wenig nachließ, konnte ich ihr sagen: „Weißt Du, was das jetzt für ein Moment war!?“ Kopfschütteln.
„Das, mein Schatz, war der Gipfel. Wir sind drüber!“

Ab jetzt wird es leichter
Meine Tochter hat noch oft den Berg gemalt. Meistens in Situationen, in denen es aus irgendeinem Grund schwierig für sie war. Fast immer kam es aus eigenem Antrieb dazu. Immer hat sie viel dazu gesagt, mir den Berg beschrieben. Manchmal waren es auch mehrere, einer für die Trennung, einer für den Umzug, einer für eine andere Herausforderung. Der Trennungs-Berg war immer der größte.
Er wurde flacher mit der Zeit. Die Rutschen und Abwärts-Treppen wurden häufiger, die Anstiege seltener. Inzwischen haben wir schon eine lange Zeit keine Berge mehr gemalt… Aber der Gedanke daran, dieses Sinnbild in petto zu haben, ist ungeheuer hilfreich!
Ich habe ausdrücklich versprechen müssen, unsere Berge niemandem zu zeigen. Darum zeige ich hier nur ein fiktives Beispiel:

Weitere Ideen für Sinnbilder:
- Eine Schifffahrt durch raue See (gutes Wetter, schlechtes Wetter, Schiff beschädigt, Inseln zum Ausruhen, …)
- Ein Ritt durch eine Wüste (Dünentäler, in denen man sich alleine fühlt, Oasen, die Hilfe bieten, wundersame Begegnungen oder Sandstürme unterwegs, …)
- Eine Fahrt durch den Weltraum (leerer Raum, ohne Hindernisse, aber vielleicht auch ohne Hilfe, ab und zu eine Raumstation mit Werkzeug oder Helfern, schöne Sterne zum Freuen, störende Meteoriten zum Ärgern, …)